Zum Thema „Frühling“ Erich Kästner
Zum Thema „Frühling“
Bei all den Sorgen, die der Virus ausgelöst hat, sollten wir nicht versäumen, an Schönes zu denken. Deshalb, „bis auf Weiteres“, wie es in vielen behördlichen Anordnung gerade heißt, an dieser Stelle ab und an ein Gedicht:
Der Mai
Im Galarock des heiteren Verschwenders,
ein Blumenzepter in der schmalen Hand,
fährt nun der Mai, der Mozart des Kalenders,
aus seiner Kutsche grüßend, über Land.
Es überblüht sich, er braucht nur zu winken.
Er winkt! Und rollt durch einen Farbenhain.
Blaumeisen flattern ihm voraus und Finken.
Und Pfauenaugen flügeln hinterdrein.
Die Apfelbäume hinterm Zaun erröten.
Die Birken machen einen grünen Knicks.
Die Drosseln spielen, auf ganz kleinen Flöten,
das Scherzo aus der Symphonie des Glücks.
Die Kutsche rollt durch atmende Pastelle.
Wir ziehn den Hut. Die Kutsche rollt vorbei.
Die Zeit versinkt in einer Fliederwelle.
O, gäb es doch ein Jahr aus lauter Mai!
Melancholie und Freude sind wohl Schwestern.
Und aus den Zweigen fällt verblühter Schnee.
Mit jedem Pulsschlag wird aus Heute Gestern.
Auch Glück kann weh tun. Auch der Mai tut weh.
Er nickt uns zu und ruft: „Ich komm ja wieder!“
Aus Himmelblau wird langsam Abendgold.
Er grüßt die Hügel, und er winkt dem Flieder.
Er lächelt. Lächelt. Und die Kutsche rollt.
Erich Kästner
Erich Kästner, aus dem Buch „Die 13 Monate“ (1955). Kästner wurde 1899 in Dresden geboren, gestorben 1974 in München. Unter den Nazis wurden auch seine Bücher verbrannt, trotzdem ist er nicht emigriert.
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